Mit Erlaubnis der Autorin Ravalya Kergarth darf ich ihre Geschichte „Der rote Umhang“ wieder veröffentlichen. Wer wissen möchte, woher ich die Geschichte habe, fragt am besten die Autorin selbst. Altbekannte Gesichter dürften die Geschichte natürlich noch kennen. Aber egal, ob unbekannt oder bekannt, gute Geschichten kann man immer wieder lesen.
Eine Bemerkung vorweg: die sonnige Waldstelle ist an dem Ort wie in der Geschichte beschrieben nicht mehr zu finden. Die Natur fragt nicht, sie breitet sich aus. Aber das ist eine andere Geschichte, die vielleicht einmal erzählt werden wird.
Da war sie wieder, wie sie schon öfter hier sitzend gesehen worden war. Ungefähr sechs Fuß groß, schlank und ganz in Weiß gekleidet, die langen Haare über den Umhang wallend, saß sie einmal mehr nachdenklich an der sonnigen Waldstelle. Im Laufe der letzten Wochen hatte sie begriffen, dass sie nicht mehr zurückkonnte. Warum ist sie auch so kopflos hinter ihrer Cousine her gerannt? Hätte sie nicht besser innegehalten und gekämpft? Sofort kam ihr der Gedanke, dass sie nie eine gute Kämpferin war, den Kampfunterricht so weit wie möglich vernachlässigt hatte. Es wäre ihr kaum möglich gewesen etwas auszurichten an diesem letzten Tag in Noröm.
Hier war sie jetzt in Sicherheit und vor allem unverwundet und lebend. Wenn sie …
Sie brach den Gedanken ärgerlich ab. Das ganze jammern nützte nichts, sie war in Simkea und sollte sich das angefangene neue Leben weiter aufbauen. Freundliche Wesen waren ihr hier begegnet, hatten ihr auch mal einen Splitter entfernt, den sie sich in ihrer Unwissenheit eingetreten hatte, einen Muttertrunk zugesteckt, mit ein paar leckeren Steaks den kargen Speiseplan bereichert und einiges mehr.
Mit den Talern von dem Blechhändler besorgte sie sich eine Axt, eine Säge und ein Messer und hatte so versucht, bestes, harzfreies Holz für die Köchinnen und Köche in Trent zurechtzusägen.
Deswegen saß sie in der lauen Nacht jetzt hier am westlichen Rand des Rodegebietes. Mittlerweile bekam sie immer mehr Geschick im Fällen und Sägen und konnte somit für ein ausreichendes Auskommen sorgen.
Plötzlich fuhr sie erschrocken zusammen. Neben ihr zischelte und raschelte es seltsam.
Da … ein wahnsinniger Wurm kam auf sie zu.
Sie sprang auf, schnelle Gedanken durchfuhren sie. Was tun, ihn mit der Axt zweiteilen oder mit dem Messer auf ihn einstechen? Doch dann fehlte ihr der Mut, leise zog sie sich ein paar Schritte zurück.
Im gleichen Moment sagte eine freundliche Stimme: „Guten Abend, werte Bürgerin. Habt keine Angst, es passiert Euch nichts.“ Erleichtert drehte sie sich dem Sprecher zu.
Ein groß gewachsener Recke stand ihr gegenüber. Sein kräftiger Körper schien von Muskeln gestählt, seine Haltung aufrecht und wachsam. Ein bis knapp an die Knöchel reichender dunkler Umhang verdeckte das meiste von einem hellen, scheinbar aus edelstem Leder bestehenden Gewand.
„Ich bin Camulos von Noröm, Werteste, und Ihr seid?“
„Ravalya Kergarth … werter Camulos“ stammelte sie ehrfurchtsvoll und errötete über ihre Unsicherheit. Da stand ein Held vor ihr, einer, der richtig mutig ist und zu kämpfen versteht. Oh ja, gehört hatte sie schon von ihm, doch ihm zu begegnen war etwas ganz anderes.
Sogleich bekam sie eine kleine Kostprobe von seiner Kampfkunst zu sehen, mit einer lässigen Bewegung seines Armes war der wahnsinnige Wurm vergangen.
„Beeindruckend wie Ihr das macht werter Camulos, und vielen Dank auch für die Hilfe“ knickste und bedankte sie sich, staunend über den schnellen, perfekten Streich.
„Das könnt Ihr auch lernen Ravalya“, erwiderte Camulos „Besorgt Euch am Markt eine Anfängerrüstung und eine Waffe. Mit beidem schaut Ihr bei mir vorbei und ich lehre Euch damit umzugehen. Wie bei allem in Simkea fangt Ihr auch das Kämpfen bei null an.“
Das war ein wirklich zuvorkommendes Angebot – von dem meisterlichen Recken persönlich unterrichtet zu werden – und doch zögerte sie sichtlich.
„Wollt Ihr immer vor einem Wurm zurückweichen? Dies ist nicht das einzige Monster in Simkea. Stellt Euch dem Übel und Ihr seid frei“ sprach er lächelnd und nahm auf einem der gefällten Baumstämme Platz.
Sie setze sich neben ihn und bei einer leichten Mahlzeit von Brötchen und Honig plauderten sie eine ganze Weile. Schließlich erhob sich Camulos von Noröm und verabschiedete sich.
„Überlegt es Euch. Wenn Ihr so weit seid, macht Euch auf den Weg in die Monumenthallen. Ihr könnt jederzeit dort vorsprechen“ waren seine letzten Worte, bevor ihn die dicht stehenden Bäume verdeckten.
Fortsetzung folgt …
Ravalya Kergarth