30
Mai

Zeit

   Posted by: BiestyBird   in Geschichten, Gedichte und Musikalisches

Immer wenn jemand zu mir gesagt hatte, dass er gerade keine Zeit hat, hatte ich ihn ausgelacht. Wie konnte man keine Zeit haben? Das Leben war nicht ewig kurz. Man hatte ewig lang Zeit.
Ich stieg aus meinem Auto aus und ging durch die Gasse zu meinem Büro. Hier trieben sich alle möglichen Leute rum, angefangen vom Bettler mit abgewetzter Kleidung bis zu einem Luxus-Geschäftsmann mit einem schweineteuren Auto.
Wenn ich schon bei der Zeit war, dachte ich mir, dass wohl die Bettler am meisten Zeit hatten. Immerhin saßen sie nur den ganzen Tag hier rum. Probierten nicht mal, zu arbeiten.
Ich rümpfte meine Nase und wollte gerade schleunigst weitergehen, als mich jemand am Jackett berührte. Es war ein kleines Mädchen, höchstens sieben Jahre alt und mit schmutzigem Gesicht. Es hatte nicht mal Schuhe und als Kleidung ein abgewetztes Stoffkleid.
Ich hatte nie viel mit Kindern zu tun, geschweige denn hatte ich je darüber nachgedacht, ob ich mal Kinder haben wollte. Sie interessierten mich einfach gar nicht.
Aber von diesem Kind ging irgendetwas aus… irgendetwas, das mir bis dahin unbekannt war.
„Entschuldige“, sagte das kleine Kind und schaute mich an. „Ich… ich habe nur so großen Hunger und ich wollte fragen, ob du mir etwas zu essen geben könntest…“
Ich würde es vorziehen, wenn du mich siezen würdest, hätte ich am liebsten als erstes gesagt. Dann dachte ich nach. Das hier war ein kleines Kind. Ich sah mich um. Wahrscheinlich hatte es seine Familie verloren und musste nun hier leben. Das würde die Kleidung, sofern noch vorhanden, erklären.
Ich überlegte und plötzlich fasste ich einen Entschluss. Ich griff nach der winzigen Hand des Kindes, drehte mich um und zog es mit mir. Es ging ohne Widerwillen mit.
„Wie heißt du?“, fragte das kleine Kind und schaute mich mit großen Augen an. Ich konnte nicht anders.
„Ich bin Mark. Und du?“
„Hallo, Mark. Ich heiße Anne.“
Ich lächelte der Kleinen zu und konnte mir nicht erklären, warum. Immerhin müsste ich schon längst bei der Arbeit sein.
Der Bäcker kam in Sicht. Die Kleine ging weiterhin brav mit mir hinein. Ich kaufte ihr eine Brezel inklusive eine Flasche Wasser und drückte es ihr die Hand. Dann ging ich in die Knie, bis ich mit ihr auf Augenhöhe war.
„Ich komme morgen wieder, ja?“ Doch ich wartete keine Antwort ab.
Mich über mich selbst wundernd ging ich zur Arbeit.

Nach der Arbeit fuhr ich wie benommen zu einem Spielzeugladen.
Als wüsste ich von Anfang an, was ich kaufen wollte, steuerte ich auf das Regal mit den Puppen zu. Ich fand eine wunderschöne mit zwei Zöpfen und einem Kleidchen.
Schneller als ich denken konnte war ich bei der Kasse und ohne auf das Geld zu achten, kaufte ich die Puppe.

Am nächsten Tag wachte ich eine halbe Stunde früher auf, als ich aufstehen musste. Ich zog mich an und machte mich fertig. Ich fuhr wie immer zur Arbeit, die Puppe auf dem Beifahrersitz.
Kaum hatte ich geparkt und stieg aus, zupfte wieder jemand an meinem Jackett. „Na, Anne?“, sagte ich und fuhr ihr durchs Haar.
„Hallo, Mark.“ Sie lächelte mich an und schaute dann schüchtern auf den Boden. „Danke für das Essen. Ich bekomme selten etwas. Seitdem mein Vater und meine Mutter erfroren sind, noch weniger.“ Sie schaute mich mit großen Augen an.
In meinem Herz rührte sich etwas und am liebsten hätte ich sie mitgenommen. „Schau mal, Anne“, sagte ich daher, „ich hab dir etwas mitgebracht. Damit du nicht mehr so alleine bist.“
Mit diesen Worten überreichte ich ihr die Puppe. Sie drückte sie fest an sich und schaute mich mit Tränen in den Augen an. „Ich danke dir so sehr.“
Ich fuhr ihr sanft durchs Haar, dann drehte ich mich um und ging, damit sie nicht meine Tränen sehen musste.

Als ich nach Hause kam, ging ich auf den Dachboden. Ich war dort seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gewesen und wusste noch weniger, wo meine alten Klamotten waren, als ich etwa in Annes Alter gewesen war.
Schließlich fand ich sie in einer Kiste, hinten in einem Eck. Verstaubt und benutzt, aber trotzdem noch gut intakt.
Ich klappte sie auf und mir schlug eine Staubwolke entgegen. Ich hustete kurz, dann fand ich auch das, was ich suchte. Ein Paar Schuhe und eine abgewetzte Hose.
Beides musste in etwa Anne passen.

Der nächste Tag kam schneller, als ich gedacht hatte. In letzter Zeit rauschte irgendwie alles an mich vorbei und ich dachte, wenn überhaupt, nur an Anne. In der Arbeit war ich wie ein Roboter.
Bevor ich zu dem Platz ging, wo ich Anne vermutete, kaufte ich ihr wieder etwas beim Bäcker. Es war noch warm und ich dachte mir, es würde ihre kalten Fingerchen wärmen.
Dieses Mal stürmte sie schon von weitem auf mich zu. „Mark!“, rief sie und lächelte mich an. Dann schlang sie ihre kurzen Ärmchen um mein Bein und schaute zu mir nach oben.
Ihre Puppe klemmte wie selbstverständlich unter ihrem Arm.
„Ich hab dich vermisst, Mark.“
„Ich dich auch.“ Mir kamen wieder die Tränen, aber ich blinzelte sie weg.
Ich reichte ihr langsam Hose und Schuhe inklusive das vom Bäcker. Sie schaute mich nur an und drückte mein Bein fest. Ihre Fingerspitzen waren blau.
Ich wickelte schnell meinen Schal weg und gab ihn ihr auch.
„Wie kann ich dir danken?“, fragte sie leise und schaute mich an. Eine Träne kullerte über ihre Wange.
Ich strich sie weg. „Indem du einfach weiter lebst.“

Ich beschloss, ihr eine dicke Decke mitzunehmen. Sie sollte nicht erfrieren. Oder am liebsten hätte ich sie einfach mitgenommen, das Recht außer acht gelassen. Sie sollte ein Zuhause haben. Sie hatte es verdient.
Es schien alles wie immer. Aber ich wunderte mich schon, als Anne weder auf mich zu rannte oder sich an mein Bein klammerte.
Ich fand sie auch nicht bei den anderen Bettlern. Ich befragte diese, aber keiner konnte mir Auskunft geben.
Da fand ich eine kleine Nebengasse. Und sah ein kleines Bündel auf dem Boden legen. Einen Schal um den Hals, die kleinen, blauen Fingerchen in der Puppe und verkrampft.
Eine angebissene Brezel daneben, die Lippen lila und rau. „Anne.“ Ich fiel neben ihr auf die Knie und schaute mir an.
Mir entwich eine Träne. Sanft nahm ich sie auf den Schoß und schaukelte sie, lehnte meinen Kopf an ihre eiskalte Stirn und drückte sie.
Da sah ich etwas in einer ihrer Hände. Ein kleines Zettelchen. Es schien fast so, als hätte sie es mir geben wollen. Ich öffnete es langsam. In krakeligen, verwackelten Buchstaben stand dort eine Botschaft, bestehend aus vier Worten: „Mark ich hab dich lieb.“
Langsam legte ich Anne auf den Steinboden und schaute sie an. Ich breitete die Decke aus und deckte sie sorgfältig zu. Es sah fast aus, als würde sie schlafen.
Eine Träne von mir tropfte auf die Decke, eine weitere folgte. Ich steckte das Zettelchen ein. Ich würde es nie vergessen.
„Ich hab dich doch auch lieb, Anne.“
Jetzt wusste ich, was diese hektischen Leute meinten. Die Zeit eines Menschen war viel zu begrenzt – und viel zu schnell vorbei.

This entry was posted on Montag, Mai 30th, 2011 at 09:59 and is filed under Geschichten, Gedichte und Musikalisches. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. Responses are currently closed, but you can trackback from your own site.

Comments are closed at this time.