24
Dez

Das vierte Licht der Weihnacht

   Posted by: Liala   in Schlagzeilen

Mit einem verträumten Lächeln strahlte sie der Sonne entgegen, die sich wärmend über den Fensterrand schob. Was ein verrückter Tag! Bis weit in den Abend hinein waren sie und Kenro im Winterland gewesen, waren gerodelt, Schlittschuh gelaufen, hatten Glühwein getrunken… Behaglich drehte sie sich auf die Seite und gönnte sich noch einen Moment des Müßiggangs. Ihr Blick fiel auf die Glaskugel, die sie gestern noch, vorsichtig auf einen Schal gebettet, auf ihren Nachttisch gelegt hatte. Allen wilden Rodelpartien zum Trotz brannten drei der vier Kerzen immer noch. Doch die eine, die letzte… Sie seufzte. Heute war Weihnachten, und sie war dem schlussendlichen Geheimnis noch nicht auf die Schliche gekommen.

Zwar hatten die vergangenen Tage sie schon einiges über das Weihnachtsfest gelehrt – weit mehr, als sie je vermutet hätte – doch das letzte Licht war ihr immer noch ein Rätsel. Sie hatte Kenro gestern von der Kugel und der mysteriösen Nachricht erzählt, doch auch er hatte ihr nicht recht weiterhelfen können.

In der vergangenen Nacht hatte sie sich einen Plan zurechtgelegt. Bis jetzt war es ihr gelungen, die ersten drei Lichter von selbst zu finden, oder auch sich finden zu lassen. Für die letzte Kerze, das letzte Licht, würde sie die anderen Simkeaner befragen. Irgendjemand musste einfach eine Idee haben, was es sein könnte.

Sie beschloss, ihren Rundgang im Trent zu beginnen, am Alchemielabor. Schließlich arbeiteten dort die klügsten Köpfe Simkeas, die es gewohnt waren, zu forschen und zu hinterfragen. Und sie hatte Glück – tatsächlich sah sie schon von weitem Rauch und Qualm vom Labor aufsteigen. Vorsichtig trat sie durch die Tür und spähte hinein: ein Alchemist stand in einer Wolke aus bunten Dämpfen vor einer der merkwürdigen Apparaturen. Schüchtern sprach sie ihn an und erklärte ihr Begehr. „Der Sinn, die Substanz von Weihnachten? Lasst mich nachdenken…“ Er kratzte sich grübelnd am Kinn, tippte sich nachdenklich an die Nasenspitze und nickte schließlich. „Ja, das ist es. Es muss der Geruch sein! Der Duft, der sich zu Weihnachten in der Stadt ausbreitet.“

Sie runzelte die Stirn. „Der Geruch? Das soll der Geist von Weihnachten sein?“

„Ihr wisst schon“, setzte er an und begleitete seine Worte mit einem Handwedeln. „Diese eigentümliche Mischung aus Tannenzweigen, Apfelsinen, süßem Backwerk, alkoholischen Heißgetränken, Braten… ich hatte da einmal etwas zusammengestellt. Wo ist es nur…“ Suchend klopfte er seine Taschen ab und hielt schließlich triumphierend ein kleines Fläschchen hoch, welches er sogleich entkorkte und ihr unter die Nase hielt. „Hier! Der Duft von Weihnachten!“

Sie war mit einem Mal sehr froh, dass sie das Frühstück hatte ausfallen lassen. Was auch immer sich an Substanzen in der Flasche befand, ihr drehte sich ohne Vorwarnung der Magen um. Gerade noch rechtzeitig wandte sie sich ab, bedankte sich höflich und eilte aus dem Labor hinaus an die frische Luft. Das war knapp! Gierig sog sie die klare, kalte Winterluft in ihre Lungen und schaffte es so, Schlimmeres zu verhindern. Sie war sich zwar sehr, sehr sicher, aber dennoch holte sie die Glaskugel hervor und warf einen Blick darauf. Nein, der vierte Docht war immer noch weiß und unberührt. Welch Glück! Das hätte ihr Weltbild ganz sicher erschüttert!

Also schon einmal nicht die Alchemisten – wer sonst? Vielleicht die Holzfäller? Immerhin waren sie es, die all die Bewohner Trents zu jedem Weihnachtsfest mit Tannenbäumchen belieferten. Ja, das würde ihre nächste Station sein. Auch hier musste sie nicht lange suchen, schon aus der Ferne hörte sie das Schlagen der Äxte und eifrige Sägegeräusche. Zielstrebig schritt sie auf eine junge Frau zu, die gerade einen Baum mit einer Axt bearbeitete. Höflich stellte sie sich und ihr Anliegen vor. Würde sie hier ihre Antwort erhalten?

„Die Wahrheit hinter Weihnachten? Ha, das ist einfach!“, rief die Frau aus. „Ich werde es Euch verraten, einen kleinen Moment.“ Sie griff rasch in einen kleinen Beutel an ihrem Gürtel und holte von dort einen kleinen Tiegel hervor. „Handcreme, das ist es! Selten gibt es so viel zu Schlagen wie an Weihnachten. All die Weihnachtsbäume… und dann noch der Bau der Buden! So viel Material, so viel Arbeit für uns Holzfäller. Da ist eine gute Creme gegen die Blasen und Schwielen Gold wert!“

Selbst mit aller möglichen Mühe gelang es ihr nicht, das Entgleiten ihrer Gesichtszüge zu verhindern. So viel zum Thema Weihnachten. Handcreme. Vor lauter Ungläubigkeit gelang es ihr noch nicht einmal mehr, den Kopf zu schütteln. So höflich wie möglich verabschiedete sie sich und verließ das Holzfällerlager. Also der nächste Reinfall. Was nun? Sie blickte zur Sonne und stellte zu ihrem Erschrecken fest, dass sie ihren höchsten Punkt bereits wieder verlassen hatte. Sie würde sich beeilen müssen, wenn sie das Rätsel noch rechtzeitig ergründen wollte. Wo könnte sie noch suchen? Die Köche, natürlich! Jeder wusste schließlich, dass zu Weihnachten stets ein Festmahl gehörte. Vielleicht würde sie ja in der Küche der Taverne mehr erfahren.

Gesagt, getan – voller Vorfreude stieß sie nach einem langen Rückmarsch die Tür der Taverne auf. Sie nickte Traviadane und Reto grüßend zu und schob sich durch das Gedränge zur Küche. Wie zu erwarten gewesen war, herrschte auch hier Hochbetrieb: für den Abend hatten sich bei Reto viele Gäste angekündigt, die es später zu verköstigen galt. Schnell hatte sie in der Masse der Küche denjenigen ausgemacht, den sie für den Erfahrensten hielt. Trotz seiner anfänglichen Verärgerung über die Störung gab er ihr dann doch Auskunft.

„So so, das Geheimnis der Weihnacht wollt Ihr ergründen? Kommt her, ich zeige es Euch.“ Er trat von den Töpfen beiseite und winkte sie herbei. Geheimnistuerisch hob er einen der Deckel. „Da, seht Ihr? Das ist das wahre Geheimnis von Weihnachten. Die richtige Soße!“

„Das kann doch nicht Euer Ernst sein!“, brach es aus ihr heraus. Ihre Zurückhaltung bei der letzten Antwort dieser Art ließ sich bei bestem Willen nicht aufrechterhalten. „Soße, ernsthaft? Das soll der Sinn von Weihnachten sein? Der wahre Kern, die wahre Bedeutung?“ Sie schnaubte abfällig.

Verletzt schlug der Koch den Deckel wieder auf den Topf. „Natürlich ist es das! Das beste Festessen taugt nur noch für die dunkle Ecke, wenn die Soße nicht stimmt! Aber was erzähle ich das auch einem Banausen wie Euch… Los, trollt Euch, in meiner Küche seid Ihr nicht länger willkommen!“ Mit diesen Worten wandte er sich von ihr ab und widmete sich wieder dem Abendgeschäft.

Ihr fiel keine passende Erwiderung ein – und auch, welch Glück, keine unpassende – und so verließ sie die Taverne wieder. Erst stinkende Flüssigkeiten, dann Handcreme und nun Soße. Dazu konnte einem doch wirklich nichts mehr einfallen. Doch all diese Rückschläge änderten nichts an ihrem Problem, verstärkten es eher noch! Es dämmerte bereits und sie hatte die Antwort auf das ihr gestellte Rätsel immer noch nicht ergründet. Was, was sollte sie nur tun? Im Gebirge vielleicht? Dort oben in der Einsamkeit hatte man wenigstens jede Menge Zeit zum Nachdenken, möglicherweise gab es ja dort noch Hoffnung.

Abgekämpft erreichte sie schließlich das Adoragebirge. Die letzten Sonnenstrahlen umrahmten die Bergspitzen bereits mit einem goldenen Schimmer. Eilig stolperte sie durch Felsspalten, kämpfte sich Anhöhen hinauf, doch überall dasselbe Bild: Nicht ein einziger Bergmann war zu sehen. Waren etwa alle schon zur Feier in Trent? Sie lief weiter, immer weiter, ein Plateau nach dem anderen hinauf, bis sie es sich schließlich eingestehen musste. Es war niemand mehr hier, der ihr bei der Lösung des Rätsels hätte helfen können. Sie war allein. Allein an Weihnachten. Sie blinzelte eine enttäuschte Träne weg, als sie an ihre Freunde dachte, die diesen Abend ohne sie verbringen würden.

Dahin war all die Hoffnung, die in ihr schlummernde Barmherzigkeit, die Freude… Wie von selbst fand die Glaskugel ihren Weg in ihre Hand. Es überraschte sie nicht, die drei brennenden Kerzen flackern zu sehen. Sie war gescheitert. Nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie ließ die Kugel neben sich in den Schnee fallen und verbarg ihr Gesicht schluchzend in ihren Händen.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Inzwischen war es dunkel und sie allein mit den Sternen. Allein? Moment, da war doch eben…

„Lia…?“, hörte sie es aus der Ferne tönen. Da rief sie doch jemand. Aber wer… „Ich bin hier!“, rief sie zurück, eine vage Vorahnung ließ ihre Stimme zittern.

Und endlich: „Lia! Hier bist Du! Ich habe Dich schon überall gesucht!“

„Kenro?“ Sie konnte es nicht fassen. In all dieser Einsamkeit, hier und jetzt, war er da. Bei ihr. Sie sprang auf und lief ihm entgegen. „Wie kommst Du denn hierher?“

„Na ich habe Dich gesucht, was denn sonst! Wir haben auf Dich gewartet… alle sind schon beisammen und feiern – und Du hast gefehlt.“ Er strich ihr über lächelnd über die Wange. „Du hast mir gefehlt.“

„Du hast mir auch gefehlt…“ Sie rang sich zu einem Lächeln durch. „Aber – ich habe versagt. Ich habe es nicht geschafft. Das letzte Licht der Weihnacht wurde nicht entzündet. Dabei war ich beinahe überall! Ich habe so viele Leute gefragt, keiner konnte mir helfen. Das wahre Geheimnis von Weihnachten ist… nun, immer noch irgendwo dort draußen.“ Sie deutete in die Ferne des Horizonts.

Kenro war ihrer Geste mit dem Blick gefolgt und senkte nun schmunzelnd den Blick. Sacht und ein wenig schüchtern ergriff er ihre Hand. „Und wenn es etwas ist, was man nicht erfragen kann? Etwas, das Dich findet, wenn es an der Zeit ist?“

Sie bedachte seine Worte. „Aber was könnte das sein? Vielleicht habe ich den Blick dafür verloren…“

Er legte seine Hand an ihr Kinn und hob es leicht an. „Manchmal hat man es auch direkt vor Augen. Vielleicht wagt man nur nicht, es zu sehen.“

Sie schluckte schwer und versuchte, die flatternden Schmetterlinge in ihrer Brust zu beruhigen. „Kann es denn sein? Meinst Du…?“ Die Frage erstarb Ihr auf den Lippen.

Er lächelte und nickte leicht. „Ja, ich meine. Nein, ich weiß! Lass es zu, wage es!“ Eindringlich blickte er sie an, suchte in ihren Augen nach der Antwort.

Sie atmete tief durch. „Dann ist es wahr. Schließlich und endlich…“ Sie lächelte.

„Ja, Liebe.“

Ihre Lippen berührten sich. Und das einzige, was den Mond, die Sterne und das Leuchten aus ihrem Inneren noch überstrahlen konnte, war das Aufflackern der vierten Kerze – des vierten Lichts der Weihnacht.vier kerzen

This entry was posted on Montag, Dezember 24th, 2012 at 09:59 and is filed under Schlagzeilen. You can follow any responses to this entry through the RSS 2.0 feed. Responses are currently closed, but you can trackback from your own site.

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